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Kann Marihuana als Ersatz für andere Drogen dienen?
Millionen Menschen weltweit sind in der einen oder anderen Form mit Sucht konfrontiert, was sich als Abhängigkeit von Opioiden, Alkohol oder Schlafmitteln manifestiert. Einige Patienten führen erfolgreich einen kalten Entzug durch, andere finden es einfacher, die Sucht mit einer Ersatzsubstanz zu brechen. Wie macht sich Cannabis dabei?
Inhaltsverzeichnis:
Drogenabhängigkeit breitet sich weltweit fortgesetzt aus. Atemberaubende 2% der Weltbevölkerung[1] (rund 158 Millionen Menschen) sind abhängig von Alkohol, verschreibungspflichtigen Medikamenten oder anderen Substanzen – ein Problem, das für 1,5% der weltweiten Krankheitslast verantwortlich ist. Die um Abhängigkeit geführte Debatte umfasst mehrere Denkrichtungen: Einige Menschen behaupten, eine Sucht würde aus rein chemischen Gründen entstehen, während andere auf zugrundeliegende psychische Probleme hinweisen, zu denen etwa Traumata gehören.
Auch die Behandlungsansätze sind unterschiedlich. Einige Drogennutzer finden Hilfe, wenn sie in einem Reha-Zentrum einen kalten Entzug vornehmen, während andere Erfolg haben, indem sie stärker suchterzeugende und schädliche Drogen gegen weniger gefährliche Ersatzstoffe austauschen.
Forscher untersuchen derzeit das Potenzial von Cannabis als Ersatz für unzählige Substanzen, zu denen etwa Opioide, Nikotin und Alkohol zählen. Andererseits wird die Pflanze oft als "Einstiegsdroge" bezeichnet – eine Substanz, die Menschen angeblich an den Drogenkonsum heranführt und sie auf einen Weg zu härteren und stärker suchterzeugenden Substanzen lenkt.
Neuere Erkenntnisse auf diesem Gebiet zeigen jedoch, dass unter den richtigen Umständen das Gegenteil der Fall sein kann.
Was treibt Drogennutzer dazu, sich für Cannabis als Ersatz zu entscheiden?
Selbst wer nur wenig über Cannabisforschung weiß, dürfte sich des Mangels an Humanstudien sehr wohl bewusst sein. Jahrzehntelange Verbote des Krauts und gesetzliche Beschränkungen seiner Erforschung hatten zur Folge, dass es noch immer schwierig ist, die Wirkung der Pflanze in einer kontrollierten Umgebung zu untersuchen. Wir sind nicht an dem Punkt, an dem viele Kliniken ihre Patienten mit Cannabis als Ersatz für problematische Substanzen versorgen, was auch daran liegt, dass uns für die Wirksamkeit dieses Vorgehens noch keine schlüssigen Belege vorliegen.
Dennoch können Forscher epidemiologische Forschung durchführen (die breite Untersuchung von Bevölkerungsgruppen) und die subjektiven Erfahrungen von Mitgliedern bestimmter Gruppen nutzen, um gültige Erkenntnisse zu gewinnen. Ein 2015 in der Zeitschrift Drug and Alcohol Review veröffentlichter wissenschaftlicher Artikel[2] verfolgte diesen Ansatz, um zu verstehen, was Drogennutzer dazu motivierte, sich selbst Cannabis zu verabreichen, um sich von härteren Drogen zu entwöhnen.
Die Forscher rekrutierten 97 "Babyboomer" (Probanden, die zwischen 1946 und 1964 geboren wurden) aus der Bay Area in San Francisco und führten mit jedem Teilnehmer eine Befragung, Gesundheitsumfrage und Audioaufzeichnung durchführten. Diese Gruppe gab unterschiedliche Antworten auf die Frage, warum sie auf Cannabis zurückgegriffen haben. Einige Probanden schlugen vor, dass Cannabis weniger mit Gewaltverbrechen in Verbindung gebracht werde und dazu beitrage, schlechte Laune zu reduzieren. Andere gaben an, das Kraut weise ihrer Meinung nach ein besseres Sicherheitsprofil als andere Drogen auf.
Interessanterweise äußerten einige Nutzer, durch den Austausch von Drogen gegen Cannabis trotzdem noch in der Lage zu sein, ein aufregendes, buntes Leben zu führen. Sie sahen hierin einen wesentlichen Vorteil gegenüber dem vergleichsweise starren Ansatz "sauber und nüchtern" von "Narcotics Anonymous".
Diese Forschungsarbeit bietet einen interessanten Einblick in die Wahrnehmungen jener Menschen, die sich dafür entscheiden, Cannabis als Ersatz zu verwenden. Aber was sagt die Wissenschaft, wenn Forscher Cannabis mit anderen Drogen als praktikablen Ersatz für den Umgang mit Entzugserscheinungen und den Symptomen von Krankheiten vergleicht?
Ist Cannabis für die Verringerung der Todesfälle durch Schmerzmittel in den Vereinigten Staaten verantwortlich?
Opioide gehören zu den wirksamsten Schmerzmitteln, die erhältlich sind. Nun mögen sie gut gegen Beschwerden wirken, doch sie weisen auch ein hohes Suchtrisiko auf. Diese Klasse von Medikamenten übt eine starke Wirkung auf das Belohnungszentrum des Gehirns aus und bewirkt die Ausschüttung von Endorphinen – Glückshormonen, die Gefühle von Vergnügen und Wohlbefinden hervorrufen. Leider hat die übermäßige Verschreibung dieser Schmerzmittel zu einer Opioid-Krise[3] geführt. Allein im Jahr 2015 stellten Ärzte in den Vereinigten Staaten 250 Millionen Rezepte über Opioide aus.
Nach Angaben der Centers for Disease Control (CDC) sind seit 1999 über 760 000 Menschen an einer Überdosis Drogen gestorben und zu zwei Dritteln[4] dieser Todesfälle trugen Opioide bei. Darüber hinaus haben im Jahr 2019 über 10 Millionen US-Bürger ab 12 Jahren Opioide missbräuchlich genutzt.
Obwohl Cannabis auf Bundesebene in den USA weiterhin illegal bleibt, haben 36 Bundesstaaten die Pflanze für medizinische Zwecke legalisiert und Ärzte können das Kraut für zahlreiche Erkrankungen verschreiben.
Kann Marihuana also bei der Bewältigung der Opioid-Krise helfen? Und welcher Zusammenhang besteht zwischen Schmerzmitteln und Gras? Interessanterweise sind Opioid-Todesfälle seit dem Aufkommen von legalem Cannabis in einigen Bundesstaaten um bis zu 25% zurückgegangen. In JAMA Internal Medicine veröffentlichte Forschungsergebnisse[5] dokumentieren eine Analyse der Cannabisgesetze und der Sterbeurkunden auf Bundesstaatsebene in den USA zwischen 1999 und 2010. Die Ergebnisse zeigten auf Bundesstaatsebene deutlich weniger Todesfälle, die mit Opioid-Konsum in Staaten mit legalisiertem medizinischem Marihuana verbunden sind.
Die Forscher weisen auf mehrere mögliche Gründe für diesen Trend hin. Zunächst einmal stellen sie fest, dass etwa 60% der Überdosierungen bei Patienten mit korrekt ausgestellten Rezepten auftreten. Sie argumentieren, dass sich dieselben Patienten mit Zugang zu medizinischem Cannabis möglicherweise für das Kraut entschieden hätten, wenn man ihnen diese Möglichkeit geboten hätte.
Darüber hinaus führten die Gesetze zu medizinischem Cannabis wahrscheinlich zu einer Verringerung der Polypharmazie (die regelmäßige Einnahme von mindestens fünf Medikamenten) und somit zu einem Rückgang der Todesfälle durch Opioide. Insbesondere die Kombination von Benzodiazepinen und Opioiden kann zu einer übermäßigen Sedierung und Atemdepression führen.
Schließlich hinterfragen die Autoren die Rolle von Cannabis, wenn es um Opioid-Entzug geht. Sollte das Kraut den Patienten helfen, ihre Einnahme zu reduzieren, ist es wahrscheinlicher, dass sie den Kreislauf durchbrechen und die Verwendung von Opioiden ganz einstellen.
Neuere Ergebnisse[6] deuten jedoch auf einen umgekehrten Trend hin, weshalb wir skeptisch bleiben sollten, was die Reduktion von Todesfällen mit Opioid-Bezug durch Cannabis angeht.
Für welche Drogen ist Cannabis ein Ersatz?
Opioide weisen ein massives Missbrauchspotenzial und ein schlechtes Sicherheitsprofil auf, insbesondere wenn sie übermäßig verschrieben werden. Sie sind jedoch eindeutig nicht die einzigen Medikamente, die weltweit Suchtprobleme verursachen. Im Folgenden gehen wir auf drei weitere Substanzen ein, die für ihre suchterzeugenden Eigenschaften berüchtigt sind, und untersuchen, inwieweit Cannabis als geeigneter Ersatz fungieren kann.
Alkohol
Als trinkfreudigste Region der Erde, gibt über ein Fünftel der europäischen Bevölkerung ab 15 Jahren an, mindestens einmal pro Woche große Mengen Alkohol zu trinken. Im Jahr 2019 konsumierte jeder zwölfte Mensch in der EU täglich[7] Alkohol. Trinken bis zum Rausch belastet die Gesundheit erheblich, aber auch häufigeres Trinken geringerer Mengen wirkt sich nachteilig aus.
Hat Cannabis die Fähigkeit, den Alkoholkonsum bei jenen Menschen einzudämmen, die offen dafür sind, es als Ersatz zu verwenden? Forscher sind heiß darauf, es herauszufinden. Eine in der Zeitschrift Alcohol and Alcoholism veröffentlichte Studie untersuchte, ob Cannabis die Rolle einer "Ersatzdroge" spielen kann. In diese Kategorie fallende Stoffe müssen bestimmte Kriterien[8] erfüllen, zu denen die folgenden zählen:
- Sie müssen den Alkoholkonsum und damit verbundene Schäden reduzieren
- Jeglicher Missbrauch sollte weniger schädlich als der Missbrauch von Alkohol sein
- Sie sollten hinsichtlich einer Überdosierung sicherer sein
- Sie sollten weniger schädlich als Alkohol sein
Cannabis erfüllt fast alle Kriterien eines geeigneten Ersatzes, aber die Forscher erklären, dass noch weitere Forschung und verbesserte Studienansätze erforderlich seien, um herausfinden zu können, wie effektiv es wirkt.
Nikotin
In Pflanzen wirkt Nikotin als Mittel zur Abschreckung von Pflanzenfressern, während es von Menschen sowohl als Stimulans als auch als Beruhigungsmittel eingesetzt wird und dabei ebenfalls durch ein enormes Missbrauchspotential auffällt. Nikotin ist weltweit die zweithäufigste Todesursache[9] und Zigarettenrauchen führt allein in den USA jährlich zu über 480 000 Todesfällen. Der Konsum von Cannabis und Nikotin umfasst größtenteils Rauchen, aber kann ersteres der durch letzterem verursachten Sucht entgegenwirken? Eine 2021 im Journal of Substance Abuse Treatment veröffentlichte wissenschaftliche Arbeit[10] birgt Hoffnung. Ähnlich wie es auch bei der Reduktion der Opioid-Einnahme nach der legalen Cannabisreform in den USA der Fall war, scheint Cannabis auch Auswirkungen auf den Tabakkonsum gehabt zu haben.
Die Forscher nutzten eine Online-Querschnittsbefragung, um 2102 Cannabisnutzer zu befragen, inwiefern Cannabis ihren Konsum anderer Substanzen beeinflusst hat. Zu den in der Gruppe erfassten Probanden zählten 650 aktuelle oder ehemalige Tabakkonsumenten. Nachdem sie mit dem Konsum von Cannabis begonnen hatten, berichteten 320 von ihnen über einen reduzierten Tabakkonsum.
Um feststellen zu können, ob Cannabis in diesem Zusammenhang wirklich funktioniert, sind jedoch Humanstudien erforderlich. Bevölkerungsstudien sind notorisch unzuverlässig und subjektive Fragebögen spiegeln die Realität nicht vollständig wider. Die Forscher sind zudem sehr daran interessiert, herauszufinden, was Cannabis hier wirksam machen könnte. Laufende Studien[11] testen Cannabisbestandteile wie β-Caryophyllen gegen Modelle der Nikotinsucht bei Tieren.
Schlafmittel
Auch Schlafmittel wie Benzodiazepine führen manche Menschen in eine Abhängigkeit. Aus diesem Grund empfiehlt die Forschung, diese Mittel in so geringen Dosen wie möglich und für die kürzest mögliche Dauer einzunehmen. Patienten wird zudem davon abgeraten, die Einnahme abrupt zu beenden. Stattdessen werden sie angewiesen, die Dosis schrittweise zu reduzieren, um potenziell gefährliche Entzugserscheinungen zu vermeiden.
Etwa 10% der Erwachsenen im Vereinigten Königreich nehmen regelmäßig Schlaftabletten, um ihnen beim Einschlafen zu helfen. Aufgrund der Dosierungsrichtlinien können sie jedoch nur für kurze Zeit von diesen Substanzen profitieren. Könnte Cannabis als Ersatz einspringen? Leider ist dieser Bereich bisher kaum erforscht. Während Humanstudien existieren, die die beiden Substanzen vergleichen, versuchen Forscher, herauszufinden, inwiefern sich Cannabis auf den Schlaf auswirkt. eine 2019 veröffentlichte Studie[12] untersuchte beispielsweise, wie CBD und THC den circadianen Rhythmus beeinflussen – die biologische Uhr, die den Schlaf-Wach-Zyklus vorgibt.
Cannabis: Einstiegsdroge oder Ersatz?
Lenkt Cannabis die Menschen also zu härteren Drogen hin oder führt es vielmehr von ihnen weg? Ohne ausreichende Daten aus klinischen Studien können wir Dir keine Antwort geben. Einige der Befürchtungen über Cannabis als Einstiegsdroge sind jedoch übertrieben und bestimmte Untersuchungen legen einen Zusammenhang zwischen dem Zugang zu Cannabis und einer geringeren Abhängigkeit von harten Drogen nahe. Andererseits zeigen einige Daten, dass Cannabis Heranwachsende zum Opioid-Konsum[13] führen kann, und dass eine Cannabiskonsumstörung[14] eine reale Erkrankung ist, die viele Leben beeinflusst.
Es lohnt sich, wie immer vorsichtig zu sein. Allerdings ist man sich weitgehend einig, dass Cannabis in diesem Bereich deutlich mehr Studien verdient, da Drogen- und Alkoholabhängigkeit ein ernstes globales Gesundheitsproblem darstellt.
- Drug Use - Our World in Data https://ourworldindata.org
- A safer alternative: Cannabis substitution as harm reduction https://onlinelibrary.wiley.com
- Overprescribing is major contributor to opioid crisis | The BMJ https://www.bmj.com
- Opioid Crisis Statistics | HHS.gov https://www.hhs.gov
- Medical Cannabis Laws and Opioid Analgesic Overdose Mortality in the United States, 1999-2010 | Adolescent Medicine | JAMA Internal Medicine | JAMA Network https://jamanetwork.com
- Association between medical cannabis laws and opioid overdose mortality has reversed over time | PNAS https://www.pnas.org
- Alcohol consumption statistics - Statistics Explained https://ec.europa.eu
- Can Cannabis be Considered a Substitute Medication for Alcohol? - PMC https://www.ncbi.nlm.nih.gov
- Nicotine Addiction: Practice Essentials, Background, Pathophysiology https://emedicine.medscape.com
- Self-reported reductions in tobacco and nicotine use following medical cannabis initiation: Results from a cross-sectional survey of authorized medical cannabis patients in Canada https://www.sciencedirect.com
- β-Caryophyllene, a dietary terpenoid, inhibits nicotine taking and nicotine seeking in rodents https://bpspubs.onlinelibrary.wiley.com
- Cannabidiol affects circadian clock core complex and its regulation in microglia cells - PubMed https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Cannabis as a Gateway Drug for Opioid Use Disorder | Journal of Law, Medicine & Ethics | Cambridge Core https://www.cambridge.org
- Cannabis Use Disorder | SpringerLink https://link.springer.com